Ich bin keine Fahne im Wind.

Auch wenn es viele Propheten gibt, die mir ihre Sicht der Dinge aufzeigen, komme ich nicht umhin, mir meine eigene Meinung zu bilden. Ich höre zu, muss nicht alles glauben, habe die Wahl, darf so entscheiden, wie es für mich stimmig ist.

Bis jetzt war das so. Die Schweiz ist eine Demokratie, ein freies Land, Selbstverantwortung, Freiheitsdenken sind Teil unserer Kultur.

Doch jetzt komme ich in Teufels Küche, wenn ich mir die Freiheit nehme, die mir angeboten wird: selber zu denken und selber zu entscheiden.

Das ent-täuscht mich.

Ich fühle mich wie ein Kind, welches gefragt wird: „Was möchtest du?“ Und wenn es sich entschieden hat und ehrlich antwortet, wird gerügt, überredet, bewertet, verurteilt, gedrängt, weil es sich für die nicht erwartete Seite entschieden hat.

Doch was hat Freiheit mit Erwartung zu tun?

Unseren Kindern wünsche ich starke Eltern, die meinen, was sie sagen und die Wahl des Kindes respektieren. Eltern die ihre Kinder lehren, sich für das entscheiden zu dürfen, wo das Kind fühlt, dass es ihm gut tut.

Und genau so eine Politik wünsche ich mir und keine Zwängerei, Druck, Respektlosigkeit.

Im Gegenzug wünsche ich mir StaatsbürgerInnen, die ihren Anstand auch in schwierigen Situationen behalten, die im respektvollen Dialog bleiben, die zuhören wollen und Fragen stellen, eigene Antworten finden und trotzdem nicht missionieren müssen, Veränderungen annehmen und auch Fehler entschuldigen können, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen und nicht die Sache oder das Geld, oder die Macht, die Rechthaberei, das Absolute.

Ich wertschätze den langen Atem und das Aushalten unseres Bundesrates, bin dankbar für eine Führung, auch wenn ich längst nicht mit allem einverstanden bin und gleichzeitig mache ich mir Sorgen um dessen Wohl. Ich wünschte ihm Erholungszeit, damit mehr Fragen statt Antworten in den Raum gestellt werden könnten, Verantwortung vorübergehend losgelassen, Unsicherheiten ausgesprochen, Fehler erkannt und ein neuer Weg eingeschlagen werden könnte.

Wenn ich Menschen therapeutisch begleite, geht es um das Finden einer inneren Ordnung, um die eigenen Antworten auf Lebensereignisse, um die Stärkung des Selbst und um das Loslassen alter Muster.

Ein Muster, das sich hartnäckig gehalten hat, ist das entweder-oder Muster, ich oder du, gewinnen oder verlieren; unterschiedlichen Ansichten schüren Konflikte. Die Lösungsstrategien, oft aus Hilflosigkeit oder Überforderung: Dominanz, Ignoranz, Arroganz, lächerlich machen, Beschönigung, Ablenkung, Lügen, Flucht ... vielleicht findet sich ein Kompromiss. Befriedigend wäre eine kooperative, kreative, individuell angepasste Lösung, wo beide Seiten vertreten sind.

Beziehungen sind gute Übungsfelder. Es wird diskutiert und verhandelt,  besprochen, kritisiert, ausgehandelt, erlitten und ausgehalten. Es finden Prozesse statt. Im Idealfall ist Lebendigkeit die Triebkraft, das Leben will sich ent-wickeln.

Zurzeit sind wir in unserer gesellschaftlichen Entwicklung wohl etwas festgefahren. Schlachtfeld ist überall, leider auch in Familien und im Freundeskreis. Ich vermisse Beweglichkeit und die Toleranz für die Sicht der Andersdenkenden, denn Vielfalt verkörpert für mich Qualität und Stärke.

Stattdessen sind wir der Polarität verfallen. Sie ist ein Fakt, doch muss sie uns in die Enge treiben? Was wäre, wenn die beiden Seiten voneinander Berechtigung zum Sein  bekämen und deren Wert gesehen würde? Wenn sie Grundlage für die Meinungsbildung würden? Wenn dadurch eine neue, kreative Sicht auf die Lage gefunden würde? Wenn Lösungen überraschen, vereinen und nicht spalten.

Genau das wünsche ich mir und darauf arbeite ich hin. In der Arbeit mit dem Einzelnen genauso wie in der Familiensituation. Ebenso im privaten Zusammensein mit Anderen oder im gesellschaftlichen Grossen. Ich hoffe darauf und ich rechne damit. Denn dieser Kleinkrieg kann nicht das letzte Wort bedeuten. Es ist äusserst unbefriedigend und zerstörend und führt uns nur von einer Krise in die nächste.

Wir (als Gesellschaft) kränkeln ja längst alle an Covid und wollen stur gesund sein und am liebsten unsterblich. Wir blenden Krankheit aus und alles andere, was schmerzt, obwohl immer mehr Menschen krank sind und die Kosten von Jahr zu Jahr zunehmen. Wir setzen auf Perfektionismus, Höchstleistungen und reines Kopfdenken, dem Druck von Aussen, auf Superlative und ewig happy.

Doch jede Krankheit und jedes Schicksal bringt Erkenntnisse und weiterführende Schritte auf der individuellen Wegstrecke eines Lebens. Wir brauchen dieses auf und ab, damit wir uns entwickeln können. Das Eine ohne das Andere ist reine Illusion, denn nur durch das Vorhandensein des Einen kann ich das Andere überhaupt erkennen und so die einzuschlagende Richtung finden und definieren.

Wo können wir ansetzen?

Im Zusammenbringen der Kräfte, im Vertrauen auf die Wechselwirkung, beim Annehmen von Krankheit und Tod, beim Zuhören und Hinsehen, im Schaffen von Verbindung ... So entsteht Wachstum, es erwächst aus dem Alten etwas Neues.

Befrieden wir also unsere Gemüter, indem wir den Kopf etwas entlasten und so

unseren Herzen mehr Raum gönnen. Gesunden wir. -> Sei auch du die Veränderung, stelle dich der Spaltung und schaffe Verbindung.

Friedensarbeit bekommt so eine neue Bühne.

Herzlich und für dich persönlich

 

Edith

 

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