Erwartungsvoll läute ich an der Wohnungstür. Niemand kommt. Ich schaue durch das Türfenster „Estancia, bist du da?“ Da höre ich ihre schlurfenden Schritte und widerwillig öffnet sie die Türe einen Spalt breit. “Oh, du bist es!“ Schnell lässt sie mich rein und schliesst die Türe. „Brrr. Kalt.“ Sie verschränkt die Arme, ihre Haare stehen auf alle Seiten.

„Was ist, warum hast du mich geweckt?“ sie setzt sich auf das abgewetzte Sofa.

„Du wolltest doch auf meinen Morgenspaziergang mitkommen, Nia wartet ganz ungeduldig im Auto. Zieh dich an.“

„Niemals, bei dieser Kälte!“ Estancia verzieht ihr Gesicht und demonstrativ verschwinden ihre angezogenen Beine unter dem Morgenrock.

Aussichtslos.

Und wie ein Trumpf aus dem Ärmel legt sie nach: „Ich kann euch nicht verstehen, geht im Kühlschrank freiwillig spazieren! Komm doch zum Tee nachher, so lange bleibe ich lieber in der Wärme meines Bettes.“

Ich grinse, Estancia ist in Afrika gross geworden. Die Schönheit des Winters interessiert sie mässig.

Auf die Kleidung kommt es an, denke ich, angelehnt an den Werbespruch: es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.

Fröhlich stapfe ich durch den Schnee, vorbei an verschneiten Büschen, durch die öde Fläche und komme zum zugefrorenen Teich. Einige Spuren ziehen sich von der einen Seite zur anderen. Wild oder nur gewöhnliche Hunde? Und Vögel, ich sehe deutliche Abdrücke im Eis. Das Eis zieht sich in Rillen und Unebenheiten über den Wasserspiegel. Was wohl darunter lebt? Und wieviel stirbt im Winter?

Gedanken sprudeln trotz der Kälte.

Da bricht ganz unerwartet ein Sonnenstrahl durch die Wolken und verzaubert das Eis in etwas Neues. Es glitzert und funkelt. Ich wechsle die Position, spiele damit und verweile einige Minuten versunken darin.

Auf den Blick kommt es an, denke ich und bedaure, dass Estancia nicht mitgekommen ist.

Zwei Stunden später sitze ich mit Estancia am Tisch. Sie hat selbstgebackenen Kuchen aufgetischt und wir plaudern. „Weißt du, so langsam gewöhne ich mich an Euch Schweizer, doch manchmal fehlt mir mein Heimatland.“

Sie erzählt mir von der Savanne, von dem Tönen der Nacht, von ihrer Mutter und ihrer Kindheit. Ich lausche ihr sehr gern.

Doch auf einmal wird sie melancholisch und meint: „Eigentlich braucht mich hier keiner.“

Sie schaut bedrückt auf ihre Hände.

„So wie du, denken viele. Sie haben den Sinn ihres Lebens verloren.“

„Verwundert dich das? Ich bin so weit weg von zu Hause! Manchmal verzehrt mich das Heimweh.“

„Ich verstehe dich ja, aber das Heimweh bringt dich nicht weiter, es ist eine Sackgasse.“

„Ha, was soll ich denn tun?“

„Bitte höre nie auf, von deiner Heimat zu erzählen, Sprich darüber und verstecke es nicht! Nimm mich mit in deine Kindheit, ich höre dir so gerne zu, es wärmt mich. Gerade in unserer Kultur ist so vieles technisch, kompliziert und kalt geworden. Wie gut tun mir deine Erzählungen über das einfache Leben, über euer Miteinander, euer Denken. Bitte erzähle weiter, es wärmt mich.“

Und Estancia erzählt und erzählt.

Es braucht sie, denke ich beim Nachhausegehen. Diese Geschichten vom Leben der Geflüchteten, das Fremde, das Ungewohnte, das Andere. Es macht uns beweglich, berührbar, verständnisvoll, verstehend, weich. Darauf kommt es an.

Zu Hause angekommen zeigt mir der Blick in die Zeitung, wie es um unsere Welt steht. Man könnte an ihr verzweifeln, so viel Unstimmiges, Leid, Tod, Ungerechtigkeit.

Stopp!

Es braucht mich und es braucht dich, uns alle.Unsere Haltung und unser Bemühen.

Unser Vertrauen, unser Glaube an das Gute, unseren Humor, unsere Geduld, unser Verzeihen, unsere Berührung.

Egal wo du stehst, du gestaltest mit.In der Familie, bei der Arbeit, im näheren Umfeld.

Auf uns kommt es an, auf unseren Blick und unser Engagement, im Kleinen ebenso, wie im Grossen.

Alles zählt. Jeder Schritt, jeder Gedanke, jede Tat, jeder Rappen.

 

herzlich und für dich persönlich

 

Edith

 

 

< zurück