Manchmal sitze ich in der Küche auf dem Barhocker und halte inne im Tun, trinke meinen Kaffee, richte meinen Blick Richtung Berge.

Ich bin zwar keine jener Leute, die den ganzen Tag hinter dem Vorhang beobachten, was auf der Strasse läuft, doch ich muss zugeben, interessant ist es schon. Da meine Wohnung im ersten Stock ist, brauche ich keinen Vorhang, sondern habe freie Sicht auf die Strassenkreuzung, auf die Brücke und den rege benutzten Dammweg der Muota entlang.

Heute sitze ich da und esse mein verspätetes Mittagessen. Es ist Sonntag und nach langer Zeit scheint wieder einmal die Sonne. Das lockt Biker und Fussgänger nach draussen und tröpfchenweise kommen sie in mein Blickfeld.

Die Wandergruppe ist bereits auf dem Heimweg, die Bikerin wartet auf ihren Partner, schaut auf die Uhr. Endlich holt er sie ein und gemeinsam fahren sie weiter. Fussgänger mit Hund, ein junges Elternpaar mit Kinderwagen, eine Gruppe Jogger ...

Und dann kommt eine Familie zu Fuss: Vater, Mutter, zwei Töchter. Die ältere der beiden Mädchen prescht voraus, langsam und mit einem kleinen Abstand kommen die Eltern mit der zweiten Tochter hinterher. Gemütlich überqueren sie die Strasse, steuern auf das Bänkli zu. Die Jüngere geht mit krummen Beinen, stützt sich am Rollator ab, der Vater unterstützt sie beim Gehen, die Mutter geht zuhinterst.

Ich bin beeindruckt und berührt. Das Mädchen scheint fröhlich, geradezu übermütig wirkt sie auf mich. Eifrig setzt sie Fuss für Fuss auf den Boden und bewegt sich mutig und selbstbewusst in ihrer ganz eigenen Gangart vorwärts. Der Vater setzt sie nun auf die Bank und nichts erinnert mehr an die Behinderung der Tochter. Die zwei Schwestern teilen sich einen Snack, man unterhält sich, lacht, hört einander zu. Die Mutter erlaubt sich einen Abstecher auf die Brücke. Schaut nachdenklich ins Wasser, telefoniert und kehrt dann zu den andern Drei zurück.

Eine Familie auf dem Sonntagsspaziergang. Auf einmal kommen mir die Tränen und ein Schluchzer entwischt mir völlig unerwartet. Die Liebe, die ich hier zu sehen bekomme, berührt mich. Sie ist gewiss weder grösser noch kleiner als in den meisten Familien. Doch sie wird sichtbar. Die natürliche Präsenz, das selbstverständliche aufeinander Acht geben, einander sehen, miteinander unterwegs sein.

Ohne Liebe geht es nicht. Als ich diesen Satz zum ersten Mal gelesen habe, hat es mich getroffen wie ein Blitz. So ist es, ohne Liebe geht es nicht.

Herzlich und für dich persönlich

 

Edith

 

 

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