Du sitzt mir gegenüber und ereiferst dich:

„Echt doof. Da war ich die ganze Pandemiezeit über mehr oder weniger gesund, richtig stark, und kaum geht es wieder normal weiter, liege ich flach. Grippe. Erschöpft und müde. Dann Husten und Heiserkeit, etwas erhöhte Temperatur.“

„Gibt es denn die Möglichkeit, dass du dich anstecken konntest, waren auch Andere krank in deinem Umfeld?“, frage ich dich.

Etwas aufgebracht antwortest du mir: „Klar weiss ich, dass ich unaufmerksam war, mich unter vielen Leuten aufhielt, wo man sowas auflesen kann. Doch normalerweise bleibe ich gesund... bin ich von einem guten Immunsystem gesegnet!“

Hm, normalerweise, denke ich. Es muss also etwas nicht so gelaufen sein, wie es normalerweise läuft. Was also war es?

Unachtsamkeit? Nachlässigkeit? Etwas Unvorhergesehenes? Oder einfach etwas Altes, das sich ins Bewusstsein drängte?

„Ich bin in eine Falle getappt, dort, wo ich es niemals erwartet hätte. Bei einer Begegnung mit einem unverschämten Verkäufer hat mich die Vergangenheit eingeholt. Da wurden auf einmal Gefühle wach, die ich aus der Kindheit kenne, jedoch sehr erfolgreich verdrängte, grosszügig vergass und in einer Ecke verstauben liess.“

Du hast also bereits etwas erkannt, hast gemerkt, dass es jemand gab, der dir etwas zeigte, das du bereits kanntest, dass dieser Verkäufer dich auf etwas hinweisen wollte, wohl unbewusst und doch sehr wirksam.

„Dieser Typ hat deine alten und weggesperrten unangenehmen Gefühle also wiedererweckt, so quasi wachgeküsst... natürlich auf äusserst unsympathische Weise. Und schon warst du wieder in dem alten Film drin, wo du die Hauptrolle spielst, stimmt’s?“, frage ich nach.

„Stimmt genau: klein und unscheinbar, dumm und wertlos eingestuft. Und ich wurde stumm und ratlos, wusste erst gar nicht wie mir geschah, erstarrte in einer Art Ohnmacht, fühlte mich umhüllt von Nebel.“

So jetzt ist die Luft raus, du wirst still und schaust auf deine Hände. Eine Träne füllt dein rechtes Auge, langsam kullert sie über die Backe und landet auf dem Tisch. Du wischt sie weg, doch es kommen andere nach.

Jetzt, ausserhalb dieses Bannes, dämmert es dir und gemeinsam stellen wir uns den Gespenstern der Vergangenheit. Du erinnerst dich an längst vergangene Situationen und erkennst, dass dieser aufgeblasene Hanswurst nur stellvertretend erschien und dir die Möglichkeit gibt, etwas Altes loszulassen, indem du dich versöhnst, mit dir und mit dem, was damals war.

Ja, damals hättest du die Mutter gebraucht, die dir sagt, dass du im Recht bist und nichts falsch machst, dass der Andere sein Problem und seine Aggression an dir ausliess und du dich hättest wehren dürfen. Statt dessen hat sie nichts gesagt und weggeschaut.

Doch versteh, sie war überfordert, hatte Berge von Arbeit, stand selber unter Druck und sah nicht richtig hin. Ihr fehlte die Zeit und so war sie selber hilflos und von Nebel umhüllt. Nimm es ihr nicht übel, sie gab ihr Bestes... doch wer ist schon perfekt?

„Dieser Schmerz... ja, ich war enttäuscht und fühlte mich im Stich gelassen. Doch wie könnte ich ihr etwas übel nehmen? Ich weiss ja, dass sie manchmal überfordert war und überhaupt, mache ich es nun wie sie und lasse mich im Stich. Denn in solchen Situationen bin ich jeweils wie gelähmt. Ich konnte mich noch nie wehren wenn mich jemand klein macht oder wenn ich übersehen werde.“

„Das ist jetzt vorbei“, sage ich behutsam, „jetzt weißt du, woher dieses Muster kommt und du kannst es ruhen lassen, mehr noch, es verlassen. Du bist erwachsen und kannst und darfst dich für dich einsetzen. Es ist dein Recht, dich zu wehren. Du bist ein unabhängiger freier Mensch und wenn es dir in einer Situation nicht wohl ist, hast du zwei Möglichkeiten: aussteigen oder drinbleiben und etwas ändern.“

Du wirst nachdenklich und schliesslich sagst du: „Das sollte nicht so schwer sein. Denn eigentlich mache ich das ja bereits so, wenn ich mich für oder gegen etwas entscheiden muss. Das präge ich mir nun ein und wende es an in Situationen, die mich an den alten Film erinnern. Ich bleibe oder ich gehe. Und wenn ich bleibe, schaue ich, dass es mir wohl ist.“

Genau so ist es.

„Verstehst du jetzt, weshalb du krank wurdest? Du brauchtest diese Zeit, damit dein Körper dir zeigen konnte, dass du innehalten musst, hinschauen und klären, verstehen und aus dem Muster aussteigen darfst.“

Dein Blick wird klar, die Augen strahlen in neuem Glanz. Zuversicht und Verstehen machen sich breit. Du bist gesund, geheilt von dem Glauben, dass du alte Verletzungen unbeachtet im Unterbewusstsein vor sich hin gammeln lassen kannst. Du hast das Alte angeschaut und durchleuchtet, diese Gefühle von Enttäuschung, Verletzung und Erniedrigung schüttelst du ab und fühlst dich befreit und stark genug, allen Winden zu trotzen.

Und du weißt es wieder und glaubst daran: Du bist genug für dich und die Welt.

Herzlich und für dich persönlich

 

Edith

 

 

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